Bisexualität & Co. damals und heute in Medizin und Gesellschaft

Der Artikel „Wenn Liebe keine Grenzen kennt“ in der Stuttgarter Zeitung vom 13.11.2021 von Nina Ayerle veranlasste mich, über deren Stellenwert in Geschichte und Gesellschaft insbesondere aus medizinisch-diagnostischer Sicht nachzudenken.

Bemerkenswert ist, dass die im Artikel erwähnte Studie von Kinsey (es kann nicht generell als hetero- oder homosexuell eingeteilt werden, es gibt bei den allermeisten verschiedene Abstufungen), bereits seit 1948 vorliegt – wir uns aber im Jahre 2021 immer noch schwer tun, Menschen, deren sexuelle Identität nicht der Mehrheit entspricht, zu akzeptieren. Dabei suchen wir uns unsere sexuelle Neigung nicht aus, sondern sie entwickelt sich schon früh, ist Teil unserer Persönlichkeit und kann auch nicht umgepolt werden durch Strafen, Therapie o.ä.

Es ist kein Glanzstück unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dass wir nach Veröffentlichung des Kinsey-Reports noch Jahrzehnte benötigten, um z.B. Homosexualität aus der strafrechtlichen Ecke herauszuholen. Auch im medizinisch/therapeutischen Bereich lief es nicht besser. Verschiedene Therapien zur Heilung von „sexuellen Perversionen“ (so war damals die Sprachregelung) wurden noch lange Zeit angewendet wie z.B. die Umstellung von Homosexualität durch ärztliche Hypnose (s. Buch „Seele ohne Angst“ von Dr. Heinrich Wallnöfer, Hoffmann und Campe Verlag von 1969, Seite 157 ff.) oder verhaltenstherapeutisch mit der sog. „Aversionstherapie“. Dass Bisexualität davon nicht erfasst war, dürfte wohl hauptsächlich daran liegen, dass Betroffene aufgrund der rechtlichen und gesellschaftlichen Situation „freiwillig“ den „richtigen“, nämlich gegengeschlechtlichen Partner „wählten“.

Heute wissen wir, dass es eine große Einengung und schweres seelisches Leid bedeutet, seine sexuelle Neigung komplett unterdrücken und ein der eigenen Veranlagung gegenteiliges Leben führen und nach außen darstellen zu müssen. Trotz rechtlicher und medizinischer Rehabilitation ist die gesellschaftliche Anerkennung noch nicht überall erreicht und Betroffene befinden sich nach wie vor im Minderheitenstress. Den diesbezüglich im Artikel geschilderten Aussagen der Psychologin Cornelia Kost kann ich nur zustimmen: Auch heute stoßen viele Betroffene noch auf Widerstand, wenn sie sich outen. Es gibt kein Patentrezept und ist eine sehr individuelle Entscheidung, ob jemand sich outen möchte oder nicht. Es gibt keine Verpflichtung dazu und es müssen sowohl äußere Faktoren (konservatives Umfeld mit dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, religiöse Normen…) als auch innere Faktoren (wieviel Widerstand, Verurteilung, Angriffe, Beschimpfungen kann ich ertragen?) bedacht werden.

Helfen bei der Entscheidungsfindung können Gespräche mit Mitbetroffenen, Selbsthilfegruppen oder eine fachlich qualifizierte Beratung, bei der auch gerne das Outing in einem Rollenspiel einfach mal ausprobiert werden kann.